Zeit Geschichte 2016 04.pdf

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Nr. 4/2016 Helmut Schmidt
Deutschland 8,90 €
Schweiz 14.00 CHF, Österreich, Benelux 10,30 €
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eschichte
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XKLUS
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eschichte
PANORAMA
Sein Jahrhundert
in privaten Bildern
HELMUT
SCHMIDT
In Kooperation mit
Gefördert durch
Stifter des ZKM
Partner des ZKM
Mobilitätspartner
FUNDSTÜCK
3
Das Spiel
Sein häusliches Arbeitszimmer liegt unberührt. Als wäre er nur
kurz raus, eine Zigarette rauchen, und käme gleich wieder. Aber
er kommt nicht wieder und musste zum Rauchen ja auch nie raus.
Der Aschenbecher auf dem Schreibtisch, dahinter – in der
Bücherwand – die Vitrine mit den Kostbarkeiten. Sie war das
Allerheiligste. Kein Mitarbeiter hat sie je geöffnet, bis heute
nicht. Münzen, Schnupftabaksdosen, eine Eule in Bronze und
die Rückenansicht einer schönen Frau in Schwarz-Weiß. Sie
bilden die Bühne für ein archaisches Schachspiel, das ihm das
liebste war unter seinen vielen Schachspielen. Aus etwas Holz,
Leim und Nägeln hatte er es in der Kriegsgefangenschaft selbst
gezimmert. Die Bauern und Offiziere grob geschnitzt, mit spit-
zen Füßen zum Stecken in die ins Brett gebohrten Löcher. Die
schwarzen Felder nur einen Hauch dunkler als die weißen, ge-
färbt mit Ersatzkaffee aus dem Lager.
Helmut Schmidt hat zeit seines Lebens Schach gespielt, am
meisten mit Loki, am liebsten täglich. Seine Siege und Nieder-
lagen vergaß er schnell. Aber dieses Spiel, das er der blanken
Not abgetrotzt hatte, behielt er für immer im Sinn.
U.S.
4
EDITORIAL
»Ein zärtlicher Helmut«
H
elmut Schmidt erklärte uns die Welt zwischen zwei
Zügen an einer Zigarette. Sein Qualm benebelte nicht,
er bezeugte die Arbeit des Denkers. Für einen kunst-
vollen Moment hüllte dieser Denker sich in Rauch, bevor Sätze
wie geschliffene Messer die Luft zerteilten. Sätze, mit denen er
jeden Interview-Haken schlagen, jeden Konflikt zwischen Ham-
burg und Hanoi historisch herleiten und auf dem Seziertisch
zerlegen konnte. Das Publikum lag ihm zu Füßen – ihm, der
nicht bloß redete, sondern zu allem etwas zu sagen hatte.
Das war Schmidt, wie wir ihn kannten und schätzten – der
Überkanzler, der sich mit Schnoddrigkeit, Charme und einem
liebenswürdigen Mangel an Bescheidenheit in unsere Herzen
philosophierte. Aber der Rauch, der ihn umgab, verbarg auch
etwas. Wer war Schmidt, wenn der Vorhang der Inszenierung
fiel? Der Mensch jenseits der Politik? Zu tiefe Einblicke scheute
er wie den Gang in eine Nichtraucherkneipe. Wir sahen, was
wir sehen sollten: das Bühnengesicht, das keine Gefühle verriet,
den »Staatsschauspieler«, der seine Rolle beherrschte.
Wer in den Fotoalben der Familie blättert, begegnet einem
anderen Schmidt. »Ein zärtlicher Helmut«, so hat Loki ein Bild
kommentiert – wie zum Beweis, dass es ihn gibt. Dieser zärtliche
Schmidt schreibt Liebeszettelchen, spielt in kurzen Hosen am
Strand und ist für manchen Jux zu haben. Solche Schnapp-
schüsse, mit denen die Schmidts ihren Alltag einfingen, sind in
diesem Heft ebenso zu sehen wie gestellte Fotos, die das Private
öffentlich inszenierten. Aus den 280 Fotoalben und 48 Foto-
kartons, die sich im Archiv von Helmut Schmidt in Hamburg-
Langenhorn über mehrere Regalmeter ausbreiten, zeigen wir
eine kleine Auswahl überwiegend unveröffentlichter Bilder. Was
uns zu privat erschien, ist im Archiv geblieben.
wir die Albumseiten als Ganzes. Dabei sind zeitliche Sprünge
unvermeidbar; sie führen dazu, dass in unserem Heft meist an-
dere Seiten nebeneinanderstehen als in den Originalen.
Welche Fotos die Schmidts für ihre Alben auswählten, wie
sie die Bilder anordneten und beschrifteten – all dies verrät, was
ihnen bedeutsam erschien und wie es in Erinnerung bleiben
sollte. Doch in den Alben ist auch zu lesen, was Loki und Hel-
mut Schmidt nicht hineingeschrieben haben: Die Fotobücher
sind Zeugnisse ihrer Zeit, selbst fehlende Beschriftungen und
unzuverlässige Datierungen wie bei den frühen Bildern sagen
etwas aus. Die Lücken erzählen von den Bombenangriffen im
Krieg, die einen Teil der Fotos zerstörten. Nach dem Krieg
wurde die Familiengeschichte dann mühsam rekonstruiert. Die
Schmidts legten ihre Alben nun kontinuierlich an – Fotografien
wurden billiger, die Seiten bunter und abwechslungsreicher.
In dieser Zeit, den fünfziger Jahren, hat vor allem Helmut
Schmidt die Bilder beschriftet; nach dem Einzug ins eigene Haus
in Hamburg-Langenhorn im Dezember 1961 ist hingegen fast
nur noch Lokis Handschrift zu sehen. Auch das spiegelt den ver-
änderten Alltag: Der Politiker Schmidt hat keine Zeit mehr, die
Erinnerungsbücher zu pflegen. Je steiler seine Karriere, desto mehr
verdrängen zudem Pressefotos die selbst geknipsten Bilder.
Schmidt ohne politische Mission – solche Motive haben in den
Siebzigern Seltenheitswert. Das Politische beherrschte jetzt das
Private, und Privates wurde politisch, wenn die Familie für den
Wahlkampf posierte. In den achtziger Jahren reißt die Serie der
persönlichen Alben ab. Damit endet auch unsere Auswahl.
B
G
eheime Verschlusssache waren die Fotoalben nie, eini-
ge Motive haben das Bildergedächtnis zu Schmidt ge-
prägt. Aber nicht um die Ikonen geht es hier, sondern
darum, die Alben als solche sprechen zu lassen. Wie in den fünf-
ziger und sechziger Jahren üblich, haben auch die Schmidts ihre
Fotoschätze launig kommentiert und mit Zeitungsausschnitten,
Notizen, Eintritts- und Landkarten zu liebevollen Collagen ar-
rangiert. Um diese Kompositionen erkennbar zu machen, zeigen
eim Stöbern in alten Fotoalben setzt unweigerlich die
Erinnerung ein – und genau das ist unser Ziel: Mit
diesem Heft möchte
ZEIT Geschichte
an Helmut
Schmidt erinnern, der vor einem Jahr, am 10. November 2015,
gestorben ist. Zugleich starten wir mit dieser Ausgabe eine
neue Reihe. Unter dem Titel »Panorama« präsentieren wir
künftig spannende Geschichtsthemen abseits der großen
Politik – bildreich erzählt und opulent gestaltet. Der Streifzug
durch die Fotoalben von Helmut und Loki Schmidt macht den
Anfang. Er ist eine Entdeckungsreise voller amüsanter Fund-
stücke und anrührender Episoden. Lassen Sie sich überraschen!
FRANK WERNER
Chefredakteur
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I N H A LT
3 Fundstück
6 Abschied von Freunden
Spät in seinem Leben brach Helmut Schmidt auf,
um alte Weggefährten zu treffen – ein letztes Mal
67 Mannsbilder
Wie Fotografen Helmut Schmidt gesehen haben
75 Willys Kronprinz
Familienalbum, Teil 4:
Der Weg zur Macht (1966–1973)
Von Matthias Naß
11 Een echt Hamborger Jung
Familienalbum, Teil 1:
Kindheit und Jugend (1918–1936)
90 Gipfel der Freundschaft
Schmidt und
Giscard d’Estaing – als Europapolitik
an der Hausbar gemacht wurde
24 Schmidts Platz
Die Erinnerung wohnt hier, in Schmidts Haus in
Langenhorn. Was wird aus ihm?
Von Markus Flohr
Von Matthias Waechter
93 Ein Kanzler für jede Krise
Familienalbum, Teil 5:
Regierungsjahre (1974–1982)
27 Krieg in Zeiten der Liebe
Familienalbum, Teil 2:
Soldatenjahre (1937–1945)
107 Heimathafen Hamburg
Von der Lichtwarkschule bis zum Pressehaus:
Auf den Spuren Helmut Schmidts
Von Judith Scholter
38 Nie wieder Krieg!
Der Soldat wurde Sicherheitspolitiker:
Die Fronterfahrung prägte Helmut Schmidt
115 Der Elder Statesman
Familienalbum, Teil 6:
Auf zu neuen Ufern (1983–1984)
Von Lu Seegers
41 »Aus dem wird mal was!«
Familienalbum, Teil 3:
Zwischen Hamburg und Bonn (1946–1965)
124 Gespräch ohne Zigarette
ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo erzählt
im Interview, was ihn an Schmidt faszinierte
60 »Monopol auf Welterklärung«
Die Schmidt-Kenner Kristina Spohr, Gunter Hofmann
und Thomas Karlauf im Gespräch
128 Bücher, Bildnachweise, Impressum
129 Zugabe
130 Vorschau
Weitere Texte im Internet:
www.zeit.de/zeit-geschichte
TITEL
Helmut Schmidt, porträtiert im Jahr 1976
von seinem Lieblingsfotografen Jupp Darchinger
DIE ALBEN
280 Fotobände lagern im Archiv von Helmut Schmidt. Darunter beinden
sich etliche Pressefoto-Sammlungen, aber auch zahlreiche persönliche Erinnerungsbücher
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