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NR. 30
19. 7. 2018
€ 4,70
Val d’Aran – ein Geheimtipp für
Abenteurer und Genießer
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Südafrika
Die verratene
Generation Mandela
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Abgeschoben
Wer sind die
69 Afghanen, die
Horst Seehofer
ausfliegen ließ?
Schnell und billig: Wie gut sind Brillen aus dem Internet ?
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ANGELIQUE
KERBER
so behalten Sie den Überblick
Wie ihr Lebenstraum
vom Wimbledon-
Sieg wahr wurde
EDITORIAL
LIEBE LESERINNEN UND LESER
„Nächstenliebe ist gelebte Politik“
Fridtjof Nansen, Nobelpreisträger 1922, Polarforscher,
Erster Flüchtlingskommissar des Völkerbundes
E
Christian Krug,
Chefredakteur
s geht schon längst nicht mehr um
die Menschen. Sie sind zu Zahlen ge-
worden. 1400 Ertrunkene bisher in
diesem Jahr im Mittelmeer, 94 000
in Deutschland gestellte Asylanträ-
ge und 69 am Geburtstag des Innen-
ministers abgeschobene Afghanen, die
Größe dieser Gruppe „weit über dem, was
bisher üblich war“, wie Seehofer mit einem
süffisanten Lächeln verkündete.
Die europäische Flüchtlingspolitik müs-
se kühl und geordnet gedacht werden,
wurde in der aufgeheizten Flüchtlings-
debatte in der vergangenen Woche gefor-
dert. Also: ohne störende Menschlichkeit.
Und ohne Mitgefühl, das beispielsweise
private Seenotretter auf dem Mittelmeer
motiviert. „Hypermoralisierung“ wurde
deren Unterstützern vorgeworfen.
Sind Flüchtlingszahlen erst zu einem rein
politischen Problem erklärt worden, kön-
nen sie vom Schreibtisch aus analysiert
werden, ohne an die Menschen zu denken,
um die es doch eigentlich geht. Das sei not-
wendig, heißt es. Nur so würde Wählern in
unseren europäischen Demokratien die
Angst vor eben diesen kühl kalkulierten
Flüchtlingszahlen genommen, die Angst,
die sie den Rechtspopulisten zutreibt und
die Demokratien ins Wanken bringen kann.
Keine Zeiten für Flüchtlingsversteher.
Doch wer Flüchtlinge nicht mehr als In-
dividuen wahrnehmen will, verwandelt sie
in einen bedrohlichen, unaufhaltsamen
Strom. Wir müssen auf die Menschen hin-
ter den Zahlen sehen. Gerade jetzt. Auf
jeden einzelnen der 69 an Seehofers Ge-
burtstag Abgeschobenen: auf Navid Ah-
madi, der gerade seine mündliche Prüfung
für den Hauptschulabschluss machen soll-
te; auf Abdul Azim Sultani, der den Aus-
bildungsvertrag zum Altenpfleger schon
unterschrieben hatte; und auf Jamal Naser
Mahmodi, den Kleinkriminellen, der sich
in Kabul erhängt hat (siehe Seite 46).
Auch diese Schicksale zeigen: Es gibt kei-
ne einfachen Antworten. Und wir müssen
kontrovers diskutieren, auch über Miss-
stände in Ämtern, Missbrauch von Recht,
nichts darf verschwiegen und vertuscht
werden. Doch Grundlage unserer demo-
kratischen, unserer rechtsstaatlichen Ent-
scheidungen muss stets die Würde des
Menschen sein. In den USA können wir
Ein Kind wird von einer Helferin in der spanischen Hafenstadt Tarifa
an Land getragen, gerettet wurde es in der Straße von Gibraltar
4
FOTO: JON NAZCAREUTERS
verfolgen, was passiert, wenn Menschen
kollektiv zur Gefahr erklärt werden, als
„Geziefer“ beschimpft, das ein Land „infi-
ziert“. US-Präsident Trump bezeichnet
Flüchtlinge als Kriminelle, Vergewaltiger,
Kidnapper. Und er ließ ihnen an der Gren-
ze die Kinder entreißen.
Wir sind in Europa – und besonders in
Deutschland – stolz auf das Rechtssystem,
das wir nach dem Zweiten Weltkrieg auf-
gebaut haben, darunter die Europäische
Menschenrechtskonvention. Sie entstand
aus der Erfahrung, dass der Abgrund ent-
setzlich tief ist, wenn Menschen nicht mehr
als Menschen gesehen werden. Schon 2012
verbot der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte, Flüchtlinge mit euro-
päischen Schiffen nach Libyen zurückzu-
bringen. Geklagt hatte auch der Flüchtling
Hirsi Jamaa gegen den Staat Italien. Und er
bekam Recht.
Kühl und besonnen muss die Politik in
der Flüchtlingsfrage agieren, ja, ohne Frage.
Mutig und kompromisslos ebenso: Wenn
sie mit libyschen Milizen verhandelt, die
Schlepperbanden betreiben. Oder bei der
Aufarbeitung des Skandals im Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge. Oder in
Verhandlungen mit anderen EU-Staaten
über die gemeinsame Verantwortlichkeit
in diesen Zeiten.
Die Flüchtlingsdebatte dreht sich nicht
allein um die Frage, wen wir wie einwan-
dern lassen wollen. Es geht um uns, um die
Seele unseres Landes, die Grundlagen
unseres Rechtssystems und unserer Poli-
tik. Wenn wir beginnen, in anderen Men-
schen vor allem das Andere zu sehen und
nicht das Menschliche, dann ist der Schritt
zur Unmenschlichkeit nicht mehr weit.
Herzlichst Ihr
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